01. Juli 2024 Tiere

Interview: Wie zählt man eigentlich Insekten?

Viele Insektenarten sind gefährdet, warnen Fachleute. Doch woher wissen wir das eigentlich? ÖkoLeo hat mit jemandem gesprochen, der sich auskennt. Dr. Carsten Morkel sammelt Daten für die sogenannten Roten Listen der gefährdeten Tierarten. Sein Spezialgebiet: Wanzen.

Alle zehn Jahre erscheint die sogenannte Rote Liste der wirbellosen Tiere, zu denen auch die Insekten zählen. In der Liste werden 14.000 verschiedene Insektenarten aufgeführt. Außerdem steht dort, welche Arten gefährdet und welche sogar vom Aussterben bedroht sind.

In einer solchen Liste steckt sehr viel Arbeit. Insektenkundige Menschen in ganz Deutschland verbringen viele Stunden damit, die Insekten zu zählen oder zu schätzen. Einer davon ist Dr. Carsten Morkel. Der Biologe aus Hessen ist Experte für Wanzen. Er hat ÖkoLeo erklärt, wie er arbeitet.

ÖkoLeo: Herr Dr. Morkel, ganz ehrlich: Warum interessieren Sie sich ausgerechnet für Wanzen?

Dr. Morkel: Weil es hochinteressante Tiere sind. Zum Beispiel ihre Verteidigung: Sie haben Duftdrüsen, mit denen sie einen giftigen Stoff absondern. Damit können sie sich gut gegen ihre Feinde wehren. Aber wenn sie nicht aufpassen, töten sie sich damit selbst, denn der Stoff kann auch ihren eigenen Panzer durchdringen. Warum ist das so? Wenn man sich gezielt mit Wanzen befasst, tauchen immer wieder neue Fragen auf. Man kann jeden Tag etwas Neues entdecken.

Ein Mann steht mit einem weißen Netz in einem Garten.
Dr. Morkel fängt Insekten. (Bild: Inka Lücke)

Nichts mehr verpassen!

Möchtest du mehr über die Natur, unsere Umwelt und das Klima erfahren? Dann melde dich beim ÖkoLeo-Newsletter an.

ÖkoLeo: Gibt es denn so viele Wanzen?

Dr. Morkel: Oh ja, allein hier in Deutschland sind es mehr als 900 verschiedene Arten. Das ist übrigens eine Artenzahl, die ich als Experte gerade noch so überschauen kann.

ÖkoLeo: 900 Arten? Die können Sie alle unterscheiden?

Dr. Morkel: Ja, die allermeisten kann ich direkt draußen vor Ort bestimmen. Nur bei einigen wenigen gelingt mir das nicht, die muss ich dann mit ins Labor nehmen und mir genauer anschauen.


ÖkoLeo: Wie gehen Sie vor, um die Wanzen zu bestimmen? Fangen Sie die Tiere ein?

Dr. Morkel: Ja, genau. Mit dem Streifkescher oder dem Vakuumsauger – das ist ein umgebauter Laubsauger – kann ich die Insekten einfangen. Oder ich nehme den Klopfschirm. Das ist ein Tuch, das wie ein Schirm aufgespannt wird. Das kann ich unter einen Baum halten und damit die Insekten auffangen, die ich mit einem Stock von den Ästen klopfe.

ÖkoLeo: In dem Kescher oder dem Schirm landen dann ja auch viele andere Insekten. Wie suchen Sie denn die Wanzen heraus?

Dr. Morkel: Dafür habe ich den Exhaustor. Das ist ein Saugapparat mit zwei Schläuchen. Damit sauge ich genau die Tiere, die mich interessieren, aus dem Kescher in ein Gefäß. Dann kann ich sie mir ganz genau anschauen.

ÖkoLeo: Und dann zählen Sie wirklich Tier für Tier?

Dr. Morkel: Erst gucke ich mir an, welche Wanzenarten im Kescher sind. Dann zähle ich in der Tat jedes Tier. Ich spreche dabei in mein Handy oder habe einen Zettel dabei, auf dem ich Striche mache. Mit der Zeit ergibt sich ein Bild, wie der Trend bei den einzelnen Arten ist, denn die Häufigkeit ändert sich von Jahr zu Jahr.

ÖkoLeo: Aber das muss man dann ja in jeder freien Minute machen, wenn es gerade nicht regnet!

Dr. Morkel: Ja, das mache ich tatsächlich, wenn ich ein bestimmtes Gebiet untersuchen möchte. Dann muss ich mehrfach zählen. Manche Wanzenarten sind nur im Frühjahr da, andere nur im Herbst. Da muss ich schon einige Male an dieselbe Stelle, und das nicht nur in einem Jahr, sondern über zwei oder drei Jahre hinweg.

ÖkoLeo: Kann man dann auch mal Pech haben und es ist keine einzige Wanze dabei?

Dr. Morkel: Nein, ich finde eigentlich immer welche. Wenn ich einfach in meinen Garten gehe, fange ich spätestens nach fünf Minuten auch eine Wanze. Nur wenn ich ganz bestimmte Wanzengruppen untersuchen möchte, kann es passieren, dass ich mehrere Stunden suche und kein Glück habe. Zum Beispiel bei den Rindenwanzen, die nur im Wald unter Baumrinde leben. Die sind schwierig zu finden.

ÖkoLeo: Wenn Sie jetzt eine bestimmte Anzahl an Wanzen in Ihrer Umgebung gezählt haben, wie ermitteln Sie dann die Daten für Hessen oder für ganz Deutschland?

Dr. Morkel: Das ist die große Kunst. Wir Insekten-Experten haben ja immer nur ein Bild von den Gebieten, die wir als Einzelpersonen bearbeiten können. Diese Zahlen müssen wir dann hochrechnen und daraus auf die Häufigkeit der untersuchten Arten in ähnlichen Landschaften schließen. Bei anderen Tiergruppen ist das anders. Von Vögeln zum Beispiel gibt es viel mehr Daten, weil es viel mehr Menschen gibt, die sich mit Vögeln auskennen.

ÖkoLeo: Und warum ist das bei Ihnen anders? Was finden Sie an Insekten interessanter als an Vögeln?

Dr. Morkel: Insekten sind die artenreichste Tiergruppe des Planeten. Sie sind so unglaublich vielfältig und spannend. Wir haben ja allein in Deutschland über 33.000 Insektenarten. Jede davon macht irgendwas anderes, jagt ein anderes Insekt oder lebt auf einer speziellen Futterpflanze. Auch beim Aussehen gibt es die verschiedensten Formen. Für mich ist es die unfassbare Vielfalt der Tiere, die so spannend ist.

Urheberrecht: Du darfst die Inhalte von ÖkoLeo kostenlos nutzen.

Du darfst Texte und Bilder auch kopieren und für deine eigenen Zwecke verwenden. Es ist aber nicht erlaubt, damit Geld zu verdienen. Wenn du Inhalte von ÖkoLeo anderswo veröffentlichen willst, zum Beispiel auf der Internetseite deiner Schule, beachte bitte einige Regeln. Du findest sie im Impressum.